Vom Ethnologen zum Quartiersmanager

Photo von Clay Banks auf Unsplash.com

Dirk Bustorf koordiniert als Quartiersmanager ein ganzheitliches Projekt in einer Sinti-Siedlung. Er studierte Ethnologie im Magisterstudium, arbeitete 11 Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Langzeitforschungsprojekt und danach für 3 Semester als Associate Professor an der äthiopischen Universität Gondar.

Welche Stationen umfasst Dein Werdegang in der Wissenschaft?

Unmittelbar nach dem Magisterabschluss stieg ich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in ein DFG-Langzeitprojekt ein. Ich blieb dort 11 Jahre lang, wobei die Laufzeit meiner einzelnen Arbeitsverträge nie mehr als zwei Jahre betrug und es immer wieder Unsicherheit gab, ob der Anschlussvertrag finanzierbar sein würde. Für ethnologische Feldaufenthalte und Schreibphasen wurde ich mehrfach viele Monate freigestellt, so dass ich „nebenbei“ promovieren konnte. Einmal wurde allerdings mein Anschlussvertrag während des Feldaufenthalts aufgeschoben (Rentenlücke). Die vorbereitende Forschung für einen Postdoc-Antrag finanzierte ich teils selbst, um keine Zeit zu verlieren.

Warum hast Du Dich entschieden, die wissenschaftliche Laufbahn zu verlassen?

Nach Abschluss aller Projekte ging ich für drei Semester als Associate Professor an die äthiopische Universität Gondar. Unter den dortigen Umständen den nächsten Forschungsantrag zu verfassen, erwies sich als unmöglich. Dafür drängten mich die Umstände in Äthiopien, meine eher historisch-ethnographische Ausrichtung abzulegen und mich den sozialen und ökologischen Katastrophen des Anthropozäns zu zuwenden. Aus einer Forschung für die Uni ergab sich ein Auftrag als freiberuflicher Fachexperte für eine Naturschutzorganisation. Zugleich verfasste ich für eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung ungefähr einen halben DFG-Antrag. Meine bisher übliche Begeisterung für Forschung wollte sich jedoch nicht mehr einstellen. Zwischen Idee und Verwirklichung lagen mir zu lange Zeit und zahlreiche meist nicht sachbezogene Hindernisse. Zudem wurde mir klar, dass ich bis zur nicht garantierten Bewilligung des Antrags für längere Zeit in Hartz 4 rutschen würde.

Wie gelang es Dir „umzusatteln“?

Mitte 2015 war es Zeit, den Knoten zu zerschlagen. Ich bewarb mich als Unterkunftsmanager für Geflüchtete und nahm mir vor, eine Festanstellung und innerhalb von zwei Jahren eine Führungsposition zu erreichen. Es ging damit sogar etwas schneller. Ich wurde Teamleiter einer Erstaufnahme, dann Leiter von vier Unterkünften. Nebenbei engagierte ich mich im Unternehmen, indem ich interkulturelle Seminare hielt und mich an der Erarbeitung von Leitfäden u.Ä. beteiligte. Da bei einer Vollzeitstelle wenig Zeit und Kraft für wissenschaftliche Arbeit bleibt, reduzierte ich 2021 auf eine 4-Tage-Woche. Seit April koordiniere ich als Quartiersmanager ein ganzheitliches Projekt in einer Sinti-Siedlung (Beteiligungsprozesse, Bildungsarbeit, soziokulturelle Angebote, Sanierung, Gründung eines Gewerbehofs).

Was hat Dich für Deinen jetzigen Beruf qualifiziert?

Aus der Wissenschaft habe ich die Kenntnisse und Fähigkeiten mitgebracht, die es dann ins neue Berufsfeld zu transferieren galt (Reihenfolge zufällig): Auffassungsgabe, Analysefähigkeiten, systemisches Denken, kommunikative und interkulturelle Kompetenz, Fleiß/Ehrgeiz/Disziplin, selbstständiges Arbeiten, Wissensmanagement, akademisches Schreiben/Editieren, Interviewtechniken, Wissensvermittlung, Netzwerken, eine flexible Balance zwischen Perfektionismus und Pragmatismus u.v.a.m. Besonders hilfreich ist die (unter anderem) bei den Äthiopien-Aufenthalten entstandene Fähigkeit, sich in unerwarteten und zunächst undurchschaubaren Situationen und Organisationen irgendwie zurechtzufinden und zu sozialisieren.

Die Arbeit als Nachwuchswissenschaftler hat mich nicht direkt auf die Zeit nach dem Ausstieg vorbereitet. Aber der Transfer meiner Kompetenzen und Erfahrungen war erfolgreich, da ich ihn schon frühzeitig ansteuerte, um einen Plan B zu haben. Eine Schwierigkeit bestand dabei teils darin, dass ich lange Zeit zwischen dem Elfenbeinturm und Äthiopien hin und her wechselte und so keine realistische Vorstellung vom normalen Wirtschaftsleben in Deutschland erhielt. Beim Transfer halfen mir als empfehlenswerte Breitbandstrategie Weiterbildungen in Systemischem Coaching und im Projektmanagement (Achtung: Wiss. Projektmanagement ≠ Projektmanagement!).

Zur Aufrechterhaltung meiner ethnologischen Identität und Anbindung wurde ich Mitglied im Bundesverband für Ethnolog:innen, der die nicht-akademisch und nicht gebundenen Ethnolog:innen vertritt. 

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