„Wie ein Naturfilmer“

Schwarz-weißes Selfie von Stefan Remeke in Hemd und Übergangsjacke vor Feldlandschaft mit Bäumen.

Erzähler von Vergangenheiten: Stefan Remeke

Ich heiße Stefan Remeke und ich arbeite heute als Autor und Publizist sowie als Entwickler von historischen Projekten. Ich habe Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften studiert – sowohl auf Magister als auch auf Lehramt. Nach dem Staatsexamen habe ich mich in die faszinierende Welt der Forschung locken lassen und als Forschungsstipendiat sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter über einen Zeitraum von sechs Jahren wissenschaftlich gearbeitet. Meinen thematischen Horizont bildete die Geschichte von Arbeitswelten. Seinerzeit habe ich mich in einem Schwerpunkt mit der Rolle der Gewerkschaften als politische Lobbyisten befasst und dafür die Sozialpolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes in der Zeit der Kanzlerschaft Willy Brandts untersucht.

Vom Forschungsgegenstand zur Flucht aus der Wissenschaft: mitunter ein kurzer Weg

Das Thema hatte Ende der 1990er Jahre und nach der Jahrtausendwende, als meine wissenschaftliche Laufbahn Fahrt aufnahm, Konjunktur. Nach dem Ende der langen Ära Kohl hatte die SPD die Führung der Bundesregierung übernommen. Bundeskanzler Gerhard Schröder schien im damaligen Bündnis für Arbeit die Nähe der Gewerkschaften zu suchen und sozialpolitisch Großes zu planen. Dies und anderes erinnerte an die Konzertierte Aktion seit den späten 1960er Jahren und an die Kanzlerschaft Willy Brandts. Wie damals übernahm mit Walter Riester ein profilierter Gewerkschaftsfunktionär die Führung der Arbeits- und Sozialpolitik. Wie damals wurden sozialpolitische Reformen angegangen – nur dass sie diesmal einen gänzlich anderen Charakter erhalten sollten. Am Ende standen die sogenannten Hartz-Reformen und ein tiefer Bruch zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften.

Nahezu zeitgleich erreichte ein weiteres Reformprojekt der neuen Bundesregierung mich persönlich: die Neuordnung des wissenschaftlichen Mittelbaus an deutschen Universitäten durch Edelgard Bulmahn, damals sozialdemokratische Bundesministerin für Bildung und Forschung. Die Junior-Professur wurde eingeführt und im Jahr 2002 der Einsatz von befristeten Arbeitsverträgen für den wissenschaftlichen Nachwuchs reglementiert. Nur noch maximal sechs Jahre vor und sechs Jahre nach der Promotion durfte man fortan an deutschen Universitäten befristet beschäftigt werden.

Damals war ich frisch promoviert und voller Stolz, meine ersten Schritte als Postdoc in der Wissenschaft gemacht zu haben. Nun kamen mehr als deutliche Klopfzeichen der Ordnungspolitik: Wer keine Junior-Professur oder keine unbefristete Anstellung an der Universität in Aussicht hatte – und dies war mit mir für die überwältigende Mehrheit der Fall – und wer nicht old school auf Habilitation und das Haifischbecken der Privatdozentur vor dem Nadelöhr der ordentlichen Lehrstuhlberufung setzten wollte, hatte fortan nur noch sechs Jahre Zeit, sich wo auch immer und wie auch immer im Forschungsbetrieb anderweitig zu etablieren.

Mut der Verzweiflung und: jetzt erst recht!

Mein Traum, mich im wissenschaftlichen Mittelbau mit historischer Forschung dauerhaft befassen zu können, hatte nun ein gesetzlich definiertes Verfallsdatum erhalten – und es war bereits in Sichtweite geraten. Warum also nicht das, was ich im universitären Bereich tat, einfach selbst organisieren? Die Idee klang verwegen. Aber als die Förderung eines Projektes, in dem ich beschäftigt war, wieder einmal auslief und die Ungewissheit groß war, habe ich den Schritt gewagt. Ich habe ein Projekt entwickelt, wie ich es zuvor vielfach im universitären Bereich getan hatte – nur diesmal nach meinen eigenen Kriterien und nicht für einen Lehrstuhl, sondern für mich selbst. Entstanden ist ein von der Hans-Böckler-Stiftung gefördertes Projekt, an dessen Ende unter dem Titel „Anders links sein“ eine Doppelbiografie der Gewerkschaftspersönlichkeiten Maria Weber und Gerd Muhr veröffentlicht werden konnte.

Die Arbeitswelten mit Gewerkschaften, Sozialpolitik, Biografie- und Erinnerungsgeschichte sind auch bei den sich anschließenden Folgeprojekten als Zentrum meiner Kompetenz  aus der wissenschaftlichen Zeit geblieben. Neu hinzu trat die Herausforderung, aus trockener Geschichte spannende Geschichten zu extrahieren und diese so aufzubereiten, dass sie auf Interesse stießen – vor allem auch jenseits der Scientific Community.

Wie ein Naturfilmer

Seither sind gut 20 Jahre vergangen. Ich habe unterdessen viele Projekte auf diese Art entwickelt, deren Machbarkeit geprüft oder selbst durchgeführt. Dabei sind Bücher und andere Veröffentlichungen entstanden, aber auch Kulturprojekte wie ein Videoarchiv mit Zeitzeugeninterviews zur Geschichte des Ruhrbergbaus, als im Jahr 2018 mit Prosper-Haniel in Bottrop die letzte Steinkohlenzeche im Revier geschlossen wurde. Und ich bin, wie man heute sagen würde, Gründer geworden. Man muss dem, was man tut, ja einen Namen geben. Und da mein Tätigkeitsbereich ungefähr mit jenem von Geschichtsagenturen übereinstimmt, betreibe ich die Agentur für Historische Publizistik.

Wer nun glaubt, dass sich dahinter ein quasi unternehmerähnlicher Arbeitsalltag verbirgt, irrt. Ich arbeite wie ein Naturfilmer: der sich überlegt, welche Biotope er erfassen möchte, wie er sie in seinen Medien präsentieren und das Interesse der Öffentlichkeit gewinnen kann; der zunächst eine Budgetplanung aufstellt, Anträge an die Filmförderung stellt oder bei Produktionsfirmen vorspricht und schließlich – die meiste Zeit allein und auf sich gestellt – auf Reisen sein Material sammelt. Von dieser Arbeitsweise eines Naturfilmers unterscheidet mich als Historiker lediglich, dass ich meine Zeitbiotope auf meinen Reisen in Archive oder zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen finde und dass mein Medium nicht der Film, sondern das geschriebene Wort ist.

Lust und Last der vermeintlichen Freiheit

Der Weg, den ich gegangen bin, ist abenteuerlich und spannend, zugleich aber steinig und desillusionierend. Wer sich im Kulturbereich freiberuflich betätigt, entfernt sich maximal von allem, was man unter dem Leitbegriff „Sicherheit“ zusammenfassen könnte. Mit dem Aggregatzustand der permanenten Unsicherheit muss man umgehen können – oder es lernen.

Der Lohn der Unsicherheit sind für mich Freiheit und Selbstverantwortung. Heute fühle ich mich in meinem Arbeitsumfeld im Gegensatz zu früher mehr als Pilot und nicht mehr als Passagier. Dennoch sind die Freiheiten des Freiberuflers relativ. Auftraggeber wie Projektförderer drängt es instinktiv nach Einflussnahme. Dagegen muss man standhaft die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Arbeitsweise verteidigen. Dabei ist man auf sich allein gestellt – und muss stets bereit sein, den Ast, auf dem man für eine begrenzte Zeit einen nährenden Platz finden könnte, notfalls zu kappen. Doch auch das ist für mich Ausdruck gewonnener Freiheit.

Wer an mehr interessiert ist:

www.afhp.net und Stefan Remeke bei linkedIn