Vom Arbeiterkind zur promovierten Unternehmerin

Kurzbiografie

Ich bin Ruth Müntinga, noch wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Arbeit und Politik der Uni Bremen und Mit-Gründerin und CEO von motus5. Ich habe Anfang der Nullerjahre Soziologie, Politologie und mittlere und neuere Geschichte auf Magister in Frankfurt am Main studiert. Danach habe ich zur Wahrnehmung von Einkommensungleichheit meinen Doktor gemacht. Heute lebe ich in Bremen und plane den Ausstieg aus der Wissenschaft, hin zur Vollzeitunternehmerin.

Ich fand die Idee, was Eigenes zu gründen immer schon attraktiv, habe sie allerdings erst nach der Begegnung mit meiner heutigen Geschäftspartnerin realisiert. Die Teilzeitanstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin bot mir am Anfang finanzielle Sicherheit und die Freiheit, zu meinem Thema Geschlechteruntypische Ausbildung forschen zu können. Inzwischen bin ich mir sicher, dass mein Weg nicht in der Wissenschaft liegt und froh, mein Unternehmen gegründet zu haben.

Wissenschaftlicher Werdegang

Ich wollte schon als Kind Wissenschaftlerin werden. Die Was-ist-Was Bücher haben mich stets angeregt, neues zu entdecken und zu analysieren. So war für mich auch stets klar, dass ich promovieren möchte. Mein Magister-Abschluss war gut genug, dass er für ein Graduiertenstipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung reichte, was mir die Promotion überhaupt erst möglich machte, da ich aus der Arbeiterklasse komme.

Die Zeit des Stipendiums hat jedoch nicht ganz ausgereicht, meine Promotion in Vollzeit zu beenden. Im Anschluss an die 3 Jahre habe ich in einem Forschungsinstitut als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität angefangen. Nach 7 Jahren Promotion konnte ich meine Dissertation endlich einreichen. Dafür bin ich viele Kompromisse eingegangen: Während mein Bruder als Metzgermeister bereits sein 3. Haus kaufte, arbeitete ich auf befristeten Teilzeitstellen. Aber ich hatte es geschafft und das war alles, was zählte.

Der Einstieg: die ersten Chancen und ein Burn-Out

Der Weg zu meinem heutigen Beruf war eher eine Ansammlung von Gelegenheiten und nicht-Gelegenheiten. Nach meiner Promotion zog es mich weg aus Frankfurt. Zunächst wollte ich in der Wissenschaft bleiben und bewarb mich in Forschungsinstituten, jedoch meistens ohne Reaktion. Da ich nicht ewig von Hartz IV leben wollte, entschied ich, die Auswahl zu vergrößern und bewarb mich auch politiknah. Dies lag mir nahe, da ich mich seit je her politisch engagiere und das Soziologiestudium in Frankfurt auch sehr politisch war. Zudem habe ich in der Forschung stets politische Instrumente analysiert.

Insgesamt habe ich bestimmt 40 Bewerbungen deutschlandweit geschrieben. Eingeladen wurde ich zweimal: erstens, von einem Forschungsinstitut in Bonn, wo ich zweite wurde; und zweitens von der SPD-Bürgerschaftsfraktion Land Bremen. In Bremen erhielt ich einen Arbeitsvertrag als Parlamentsreferentin für Wirtschaft, Arbeit und Häfen, später auch Gleichstellung. Endlich eine echte Chance, endlich eine Perspektive! Doch die Zeit in der Politik war ernüchternd: Ich lernte die gläserne Decke so richtig kennen und stellte fest, dass es anderen Frauen auch so geht. Nach 4 Jahren verließ ich die Politik und nahm ein Angebot einer Stiftung an, in der es jedoch nicht besser lief. Das Ergebnis: Burn-out. Ich konnte erstmal nicht mehr. Nach den vielen Jahren des Arbeitens für meine Ausbildung, für eine bessere Zukunft, musste ich im Alltag immer wieder kämpfen. Ich kämpfte dafür, mehr als die Sekretärin zu sein, ernstgenommen zu werden, meine Meinung frei äußern zu dürfen. Das war alles irgendwann zu viel und meine Ärztinnen und Ärzte zogen für mich die Reißleine.

Im Rückblick war diese Zeit ein Geschenk, denn ich konnte endlich die Fragen stellen, für die ich sonst keine Zeit gehabt hatte: Wie soll mein (Arbeits-)Tag aussehen? Was sind die Rahmenbedingungen, die mich richtig gut werden lassen? Wann habe ich Spaß bei der Arbeit? Welche Sicherheit brauche ich, um zufrieden zu sein?

Der Neuanfang: die Gründung

Danach lernte ich meine heutige Geschäftspartnerin kennen, mit der ich motus5, eine Organisationsberatung, gründete. Ich hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, zu gründen, doch fehlte mir die Idee. Außerdem war für mich klar: Allein mache ich das nicht. Wenn mir die Zeit der Promotion was gezeigt hat, dann, dass ich nicht gerne allein arbeite. Auch hatte ich Angst vor dem Schritt und traute mich nicht ganz. Geschürt wurde diese Angst sicherlich auch durch die Corona-Pandemie. Zwar dachten wir bei der Gründung im August 2020, dass die Pandemie nun zu Ende sei, doch der Winter stand bevor und lehrte uns eines Besseren.

So kam es, dass ich eine Stelle an der Uni Bremen als wissenschaftliche Mitarbeiterin annahm: knapp 3 Jahre, 65 %, TV-L 13, Thema: Geschlechteruntypische Ausbildung. Das klang prima, das klang nach Absicherung und gleichzeitig Zeit für motus5.

Heute stehe ich kurz vor Ende des Forschungsprojekts. Für mich wird aufgrund der vielen negativen Erfahrungen, die ich auch an der Uni Bremen machen musste, klar: Die Uni ist nicht meine Zukunft. Besonders der Gender Pay Gap trotz Tarifvertrag und die sexuelle Belästigung haben mir erneut gezeigt, dass der universitäre Kontext für mich mehr Rückschritt als Rückhalt bedeutet. Gleichzeitig hat mir die Stelle die Sicherheit gegeben, die ich brauchte, um während der Pandemie ein Unternehmen aufzubauen.

Zunächst war es wirklich schwer, eine Organisationsberatung für Diversität aufzubauen. Unser Schwerpunkt lag und liegt auf Präsenzterminen und wir wollten auch Seminare für Privatfrauen anbieten, um gemeinsam daran zu arbeiten, die gläserne Decke zu durchbrechen. Doch Präsenz ging aufgrund der Infektionsgefahr einfach nicht. Außerdem hatten die meisten Unternehmen die Haltung: „Wir haben gerade eine Pandemie, da haben wir andere Probleme als Frauen und Gedöns“.

Seit die Pandemie zu unserem Alltag gehört, also seit Anfang 2023, funktioniert auch der Markteinstieg. Plötzlich erhalten wir Resonanz auf unsere Vertriebs-Aktivitäten. Wir werden angesprochen, wir fallen auf – aber, so meine Interpretation, weil sich Unternehmen nun auch wieder mit anderen Themen beschäftigen wollen und sehen, dass sie Geld in die Hand nehmen müssen, wenn sie was ändern wollen. Zudem hat sich der Arbeitsmarkt drastisch verändert und die Nachfrage nach Fachkräften ist enorm gestiegen. Da Gehalt nur ein kleiner Baustein ist, um als Arbeitgebende attraktiv zu sein, rücken immer mehr Aspekte wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Unternehmenskultur, etc. in den Fokus von Unternehmen. Und genau da setzen wir an und bieten auf Basis neurowissenschaftlicher Erkenntnisse Lösungen an, um sich zu verändern.

Dein Beruf: Wie sieht dein jetziger Berufsalltag aus?

Heute sieht mein Arbeitsalltag ganz anders aus: Ich reise viel im DACH-Raum, zu Firmenkundschaft, die mehr Diversität und mehr Gleichstellung erreichen will. Meistens arbeite ich von zuhause aus, ich habe viel Kontakt zu gleichgesinnten Menschen. Das Ziel macht mich unglaublich zufrieden, und meine Tätigkeit –das Beraten und gemeinsame an neuen Strategien Arbeiten– liegt mir sehr. Ich bekomme tolles Feedback, fühle mich eingebunden und habe das Gefühl, einen guten und wichtigen Beitrag zu leisten. All das macht mich sehr zufrieden.

Welche Persönlichkeit – denkst Du – sollte jemand haben, die oder der Deinen Job macht? Welche Aspekte Deiner Persönlichkeit fördert der Beruf besonders?

Die wichtigste Entwicklung der vergangenen 3 Jahre, also der Grundstein für meine heutige Tätigkeit als Unternehmerin, war mein Selbstverständnis. Vielleicht hat es auch mit meiner Herkunft zu tun. Vielleicht auch mit meinem Geschlecht. Vielleicht auch mit ganz anderen Faktoren. Ich war sehr unsicher, habe mir vieles nicht zugetraut. Heute weiß ich, worin ich richtig gut bin. Ich habe erkannt, welche Kompetenzen ich mitbringe, was meine Talente sind und wie ich diese einsetzen kann. Das ist ein unfassbar wichtiger Grundstein für berufliche Zufriedenheit – egal, welchen Weg man geht.

Was würdest du jemandem raten, der einen ähnlichen beruflichen Weg gehen möchte?

Nehmt euch die Zeit, um zu reflektieren, was ihr wollt. Wie soll euer Arbeitstag aussehen? Was sind die Rahmenbedingungen, die euch richtig gut werden lassen? Wann habt ihr Spaß bei der Arbeit? Welche Sicherheit braucht ihr, um zufrieden zu sein? Ich hatte dabei Hilfe durch eine Psychologin, auch das ist mein Rat: Macht diesen Prozess nicht allein, sondern mit Unterstützung; ganz gezielt.

Für mich war noch wichtig zu prüfen, wer in meinem sozialen Umfeld ist und welche Vorbilder ich habe. Habt ihr Menschen, die euch grundsätzlich unterstützen? Auch in Momenten, die vielleicht eher als riskant bezeichnet werden, z. B. bei der Gründung eines Unternehmens? Oder sind es Menschen, die zu sehr zur Sicherheit drängen? Und habt ihr ein Umfeld, das euch Energie gibt; Menschen, die euch guttun, die euch positives Feedback geben? Ich habe mich in den vergangenen Jahren von einigen Menschen getrennt, die mir eher als energieraubend erschienen. Wenn ich nach einem freundschaftlichen Treffen völlig erschöpft und ausgelaugt bin, hinterfrage ich heute, woran das liegen könnte und ziehe gegebenenfalls Konsequenzen. Habt ihr Vorbilder in eurem Umfeld, die etwas machen, was ihr machen wollt? Sonst sucht sie euch. Ganz gezielt. Die Macht der Vorbilder ist riesig und wirkt.

Findet eure Kompetenzen, eure Stärken, eure Talente heraus und feiert sie. Nur, wenn ihr wisst, was ihr gut könnt, und euch dessen sicher seid, könnt ihr das auch einsetzen. Das macht zudem zufrieden und außerdem gesund.